Vermessung von Überholvorgängen

Zusammenfassung

In den letzten Wochen leistete das Fraunhofer IVI gemeinsam mit der TU Dresden, Fakultät für Verkehrswissenschaften »Friedrich List«, Lehrstuhl »Gestaltung von Straßenverkehrsanlagen« einen Betrag zur Erhöhung der Verkehrssicherheit. Die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) plant deutschlandweit neue Straßenanlagen. Um auf diesen Straßen Überholvorgänge sicher zu ermöglichen, müssen gewisse Sichtweiten, Kuppenradien bzw. Straßenbreiten vorhanden sein. Die genauen Zahlenwerte dieser Größen werden aus einem Überholmodell entnommen. In diesem Modell ist beschrieben, wie der durchschnittliche Autofahrer überholt. Die Datengrundlage zur Bestimmung der Modellparameter ist 1960 aufgezeichnet worden und somit bereits über 50 Jahre alt. In den letzten 50 Jahren hat sich fahrzeugtechnisch allerdings einiges getan. Deshalb werden dringend neue Modellparameter benötigt. Das Fraunhofer IVI wurde nun in Kooperation mit der Airclip GmbH von der BASt beauftragt, Überholvorgänge aufzuzeichnen, um daraus das Überholmodell neu bedaten zu können.

Die Erfassung der Überholvorgänge an Unfallschwerpunkten erfolgt im Rahmen von Befliegungen mit einer Ultraweitwinkelkamera auf ca. 800 Meter Fahrbahn. Die Kamera nimmt 15 Bilder pro Sekunde mit 4096 × 2304 Pixeln auf, die in einem nachgelagerten automatisierten Prozess entzerrt und kalibriert werden. In den kalibrierten Sequenzen lassen sich dann einzelne Fahrzeuge selektien, die automatisch im Videobild verfolgt und deren Bewegungstrajektorien exportiert werden. Somit sind nach der Verarbeitung sowohl die Geschwindigkeiten als auch die Abstände der an der Überholung beteiligten Fahrzeuge bekannt. Die Erarbeitung der Algorithmen findet am Fraunhofer IVI statt. Innerhalb eines Monats konnten mit dieser Methode ca. 400 Überholvorgänge aufgenommen werden. In den kommenden Wochen sollen noch einige hinzukommen.

Anforderungen

Für die Aufzeichnung der Bildsequenzen von Überholvorgängen auf ausgewählten Strecken bestehen folgende Anforderungen:

  • Erfassung von Zeitdauer und zurückgelegter Wegstrecke von allen am Überholvorgang Beteiligten (Überholter, Überholer, Entgegenkommender) sowie daraus abgeleitete Geschwindigkeiten und Beschleunigungen,
  • kontinuierliche Aufnahme der Messwerte für alle am Überholvorgang beteiligten Fahrzeuge,
  • Einsehbarkeit großer Abschnittslängen von mindestens 600 Metern,
  • von den Fahrern nicht wahrnehmbare und das Fahrverhalten nicht beeinflussende Messtechnik.

Kameraparameter

Für die Messung wird HORUS mit einem aktiven nick- und rollkompensierten Kameramodul ausgestattet. Die Kamerahalterung gleicht die Nick- und Rollbewegungen des Kopters genau so aus, dass die montierte Kamera während der Messdatenerfassung einen konstanten Aufnahmewinkel hält.

Aufgrund der Tatsache, dass die maximale Flughöhe des HORUS ca. 250 Meter beträgt und der zu erfassende Straßenabschnitt von einem Punkt aus dieser Höhe erfasst werden soll, ist ein Objektiv mit geringer Brennweite erforderlich und eine Kalibrierung der Messkamera notwendig. Eine Kalibrierung bezeichnet die Ermittlung der internen und externen Kameraparameter und ermöglicht somit die Transformation der Pixelkoordinaten in die Weltkoordinaten eines abgebildeten Objektes.

Die Bestimmung der internen Kameraparameter erfolgte am Institut für Photogrammetrie und Fernerkundung der Technischen Universität Dresden in einem Raum, der speziell für die Kalibrierung von Fischaugen-Objektiven eingerichtet wurde. An den Wänden und der Decke befinden sich 140 Messpunkte, deren Objektkoordinaten mit einer Standardabweichung von maximal 0,23 mm bekannt sind.

Auswertungsalgorithmus

Für die Implementierung eines Algorithmus, der ausgehend von Luftbildern die Positionen von Fahrzeugen im Weltkoordinatensystem bestimmt, sind Überholvorgänge von besonderem Interesse. Anhand ermittelter Fahrzeugtrajektorien erfolgt am Institut für Verkehrsplanung und Straßenverkehr der Technischen Universität Dresden die Erstellung eines Modells für das Überholverhalten von Pkw-Fahrern. Die auszuwertende Datenmenge von mehr als 600 Überholsequenzen erfordert eine weitestgehende Automatisierung.

Ein Nachbearbeitungsprozess fasst die Ergebnisse zu den gesuchten Trajektorien zusammen. Die Algorithmen der Bildverarbeitung werden in der Entwicklungsumgebung Halcon realisiert. Nach der Berechnung der unverzeichneten Bilder ist eine Stabilisierung nötig, um die Bewegungen des HORUS zu kompensieren. Die anschließende Hintergrund-Schätzung ermöglicht das Erkennen von Fahrzeugen. Mithilfe von Matlab werden im Rahmen der Nachbearbeitung Fehldetektionen entfernt und die verbliebenen Koordinaten den entsprechenden Fahrzeugen zugeordnet.

Die resultierenden Trajektorien lassen sich beispielsweise zur Formulierung eines mathematischen Überholmodells weiterverarbeiteen.

Entzeichnung

Mittels der Korrektur von Verzeichniseffekten entspricht das resultierende Bild dem linientreuen Modell der Zentralprojektion. Dieser Vorgang erleichtert die Weiterverarbeitung, da Form und Größe der abgebildeten Objekte unabhängig von der Position im Bild sind. Die Entzeichnung wurde in der Entwicklungsumgebung Halcon umgesetzt, die beliebige Verzerrungen unterstützt. Nach der Generierung eines regulären Gitters, das die Geometrie des zentralprojektiven Bildes repräsentiert, wird jeder Gitterpunkt verzeichnet. Mithilfe der resultierenden Koordinaten und Informationen über die Größe des Punktgitters sowie den ursprünglichen Gitterabstand kann eine Abbildungsvorschrift erstellt werden, die die Entzeichnung realisiert.

Die Grauwertzuweisung erfolgt für jedes Pixel im Ausgabebild durch die bilineare Interpolation. Dabei werden die vier benachbarten Grauwerte einer berechneten Pixelposition in die Interpolation einbezogen. Das entzeichnete Bild ist mit 6200 Pixeln um den Faktor 1,6 breiter als das ursprüngliche Bild. Ausgehend vom entzeichneten Einzelbild ist die Transformation in Weltkoordinaten möglich. Der Messbereich umfasst - bezogen auf die Anforderungen im Projekt - die Abbildung einer Straße, die im Vergleich zu der gesamten Projektionsfläche eine geringe Breite aufweist.

Stabilisierung

Im Gegensatz zu einer stationären Kamera lassen sich leichte Bildbewegungen trotz roll- und nickkompensierter Aufhängung der Kamera bei der Nutzung eines Multirotor-UAS nicht vermeiden. Zur Bestimmung der Fahrzeugpositionen ist deshalb eine Stabilisierung des Bildes erforderlich.

Dabei sind die Verschiebungen und Drehungen der Aufnahmen zueinander zu bestimmen und zu korrigieren. Ein möglicher Ansatz ist das Erkennen und Ausrichten von Bereichen am Straßenrand, die sich über die Messdauer nicht ändern.

Um diese stationären Vergleichsmuster zu finden, kam das von Halcon bereitgestellte korrelationsbasierte Matching zum Einsatz. Als Ähnlichkeitsmaß zwischen einem Muster und dem Suchbereich dient dabei die normierte Kreuzkorrelationsfunktion. Die Stelle der maximalen Korrelation ist mit hoher Wahrscheinlichkeit die Position des Referenzmusters im Bild. Aus den Ergebnissen werden jeweils die Suchbereiche für das nächste Bild generiert. Dieses Vorgehen reduziert die Rechenzeit im Vergleich zu konstanten, größeren Suchbereichen.

Das korrelationsbasierte Matching ist robust gegen Unschärfe und lineare Helligkeitsänderungen. Allerdings ist das Verfahren empfindlich gegenüber Verdeckungen und nichtlinearen Beleuchtungsänderungen, beispielsweise aufgrund wechselnder Bewölkung. Aus diesem Grund werden die Referenzmuster in regelmäßigen Abständen automatisch aktualisiert, so dass die Bilder auch bei wechselnder Bewölkung stabilisiert werden.

Hintergrund-Schätzung

 

Die Basis für eine automatische Erkennung von bewegten Fahrzeugen ist eine Referenzaufnahme, mit der das zu analysierende Bild verglichen wird. Der Hintergrund der jeweiligen Szene enthält keine beweglichen Objekte und bietet sich daher als Bezug an. Bei der Ermittlung des Hintergrundbildes sind folgende Herausforderungen zu lösen:

  • Tagsüber sind Bilder ohne Fahrzeuge auf durchschnittlich genutzten Straßen nur gelegentlich zu erfassen.
  • Das Hintergrundbild verändert sich wegen wechselnder Licht- und Sichtbedingungen.

Daraus folgt, dass ein statisches Referenzbild nicht existiert. Der Hintergrund muss demnach geschätzt und automatisch an die wechselnden Umgebungsbedingungen angepasst werden. Eine kontinuierliche Aktualisierung des Hintergrundbildes ermöglicht die Anpassung an Helligkeitsänderungen.

Da der Blickwinkel bei Windböen von den Sollwerten abweicht, verändert sich die perspektivische Verzerrung der betroffenen Einzelbilder. Im Referenzbild kommt es somit zu Unschärfe, die an den Kanten deutlich wird. Vor allem an den Rändern der Straßenmarkierungen tritt dieser Effekt auf, der im Verlauf der Fahrzeugerkennung zu berücksichtigen ist.

Die Hintergrund-Schätzung wurde in der Entwicklungsumgebung Halcon implementiert. Aus den Bildern, die in die Generierung des Referenzbildes einfließen, werden für jeden Farbkanal Mehrkanalbilder erstellt. Die Berechnung der pixelweisen Mittelwerte über die entsprechenden Kanäle mithilfe der in Halcon verfügbaren Prozeduren liefert das Ergebnis der Hintergrund-Schätzung.

 

Fahrzeugerkennung

Unter der Annahme, dass nur Fahrzeuge als bewegliche Objekte aufgenommen werden, lässt sich deren Position ermitteln. Dabei wird das zu analysierende Bild vom Referenzbild abgezogen.

Es hat sich gezeigt, dass der Übergang vom RGB- in den HSV-Farbraum Vorteile bringt, denn anstelle des aus dem RGB-Bild ermittelten Grauwerts liefert die Nutzung des Helligkeit-Kanals im HSVRaum - insbesondere bei farbigen Fahrzeugen - eine robuste Detektion.

Zusammenhängende Regionen im Differenzbild, die eine größere Helligkeit als ein Schwellenwert aufweisen, erzeugen das Binärbild und werden weiter betrachtet. Dabei sind die folgenden allgemeingültigen Merkmale der Einzelregionen zu berücksichtigen:

  • Ein Fahrzeug kann aus mehreren Regionen bestehen.
  • Mehrere Fahrzeuge können in einer Region verschmelzen.
  • Erkannte Regionen können, aber müssen nicht zwangsläufig zu Fahrzeugen gehören.

Weiterhin können von Halcon bereitgestellte morphologische Operatoren angewendet werden, um die Gestalt der Regionen zu verändern. Die Operation »Closing« schließt Lücken in den Regionen, um ein homogenes Fahrzeugabbild zu erzeugen. Dabei folgt intern eine Erosion auf eine Dilatation. Alle gefundenen Regionen werden auf die Plausibilität geprüft, einem Fahrzeug zu entsprechen.

Für die verwendete Auflösung ist eine Mindestgröße von 5×5 Pixeln und eine maximale Länge von 200 Pixeln sinnvoll.

Filterung und Klassifikation der Fahrzeugposition

Die für jedes Bild unabhängig gespeicherten Positionen werden im Rahmen einer Nachbearbeitung den entsprechenden Fahrzeugen zugeordnet.

Diese Klassifikation wurde in Matlab implementiert und filtert Koordinaten heraus, die keine Zugehörigkeit zu einem Fahrzeug erkennen  lassen. Unter der Annahme, dass ein Fahrzeug in dem Zeitintervall zwischen zwei Einzelbildern eine kurze Strecke zurücklegt, können die wahrscheinlichsten Positionen für die Beschreibung eines bestimmten Fahrzeugwegs gefunden werden.

Die resultierenden Trajektorien kennzeichnen die Bewegung der Fahrzeuge in der
Geländeebene. Für die weitere Auswertung der Überholvorgänge ist vor allem die Untersuchung der X-Richtung interessant.